Inklusion bedeutet mehr als Konformität
veröffentlicht in 2018
Die Nutzeranforderungen an barrierefreies Webdesign werden in vielen konkreten Fällen über die Kriterien aus den Web Content Accessibility Guidelines (WCAG) 2.0 hinaus gehen. Das liegt nicht nur an einzelnen Anforderungen in den WCAG 2.0, die teilweise minimalistischen Charakter haben, sondern selbstverständlich auch an Software oder Anforderungen der Nutzer selbst. Deswegen darf die Konformität zu den WCAG 2.0 lediglich als Ausgangspunkt für eine gut nutzbare Webseite für möglichst alle Nutzer angesehen werden.
Hinweis: Die WCAG 2.0 wurden bereits im Jahr 2008 veröffentlicht. Sie umfassen 61 Erfolgskriterien auf drei Konformitätsstufen. Für Mitte 2018 wird die WCAG 2.1 erwartet, die die WCAG 2.0 um einige neue Kriterien erweitert, und eine WCAG 3.0 ist für das Jahr 2020 angekündigt.
Konformität ist nur der erste Schritt
Die WCAG 2.0 umfassen nicht alle Anforderungen von Menschen mit Behinderungen an die Barrierefreiheit. Dafür gibt es verschiedene Gründe. Ein wichtiger Grund ist die Testbarkeit: Anforderungen, die objektiv getestet werden können, sind eher auf Konformitätsstufe A oder AA zu finden (je nach Auswirkung bei Nicht-Erfüllung) während Erfolgskriterien, die beispielsweise nur bedingt messbar sind oder die Gestaltung der Inhalte möglicherweise zu sehr beeinflussen, eher auf Stufe AAA oder gar nicht in den Richtlinien vorkommen.
Dass die Konformität zu den WCAG 2.0 manchmal nicht ausreichend ist, wird durch den Einsatz von konkreten Hilfsmitteln durch Menschen mit Behinderungen verdeutlicht. Es gibt diverse Eingabegeräte als Maus- und Tastaturersatz sowie Software z.B. für Bildschirmtastaturen oder Spracherkennung, die alle auf vorhandenen Schnittstellen des Betriebssystems aufsetzen. Für die Ausgabe gibt es Screenreader, die Inhalte in Sprache oder Braille umwandeln, und Vergrößerungssysteme. Nicht alle der Hilfsmittel unterstützen Webstandards auf ausreichende Weise und nicht alle Nutzer setzen die aktuellste Software ein. So kann es durchaus passieren, dass moderne, standardkonforme Webseiten mit einem fünf Jahre alten Screenreader genutzt werden, und Kompatibilitätsprobleme dazu führen, dass eine Webseite oder einzelne Komponente der Webseite nicht oder nur eingeschränkt nutzbar sind.
Andere Themen sind in den WCAG 2.0 unterrepräsentiert, wozu die Verständlichkeit zählt; sie taucht auf der dritten Konformitätsstufe AAA der WCAG 2.0 auf. Das bedeutet, das Thema hat optionalen Charakter und trotzdem gibt es viele Menschen, die auf Verständlichkeit angewiesen sind.
Auch zur Leserlichkeit finden sich Anforderungen zur visuellen Präsentation lediglich auf Konformitätsstufe AAA und betreffen Farbe, Zeilenlänge, Zeilenfall, Zeilenzwischenraum und Textvergrößerung. Aspekte wie Schriftart und Auszeichnungsart sowie weitere Gestaltungsaspekte z.B. zum Hintergrund gehören nicht zu den Anforderungen – auch weil sie nicht universell festgelegt werden können. Bestimmte Nutzer werden beispielsweise bei einer serifenlosen Schrift wie Helvetica besser lesen können während andere eine Serifenschrift bevorzugen. Dennoch: Die Anforderungen an die visuelle Präsentation legen nicht die Gestaltung einer Webseite fest, sondern sie bestimmen lediglich, dass Nutzer eine Anpassungsmöglichkeit haben sollten.
Daher sind Nutzertests immer empfehlenswert, auch wenn die Konformität von einem Accessibility Consultant attestiert wurde.
Ein inklusiver Ansatz ist erforderlich
Dass die Messlatte für Barrierefreiheit vor allem in einem individuellen Kontext viel zu kurz greifen kann, liegt auf der Hand. Um ein positives Nutzungserlebnis bei möglichst vielen Menschen mit Behinderungen zu erreichen, müssen die Anforderungen einzelner Nutzergruppen und Nutzer in die Gestaltungsüberlegungen für Webinhalte einfließen. Die Arbeitsweisen und spezifischen Anforderungen der verschiedenen Nutzergruppen können dabei auf der angestrebten Konformitätsstufe der WCAG 2.0 nicht vorkommen.
Vor der Umsetzung eines barrierefreien Webdesigns sollten die möglichen Anforderungen und die Schnittmengen zu den Richtlinien einzeln vergegenwärtigt werden:
- Sehbehinderte stellen eine heterogene Nutzergruppe dar. Wichtige Aspekte für die Webentwicklung sind insbesondere die Anpassung der Bildschirmeinstellungen und die Berücksichtigung ausreichender Kontrastverhältnisse für Text. Sehbehinderte Nutzer werden stärker von einer Konformität zu den WCAG 2.1 als von der Konformität zu den WCAG 2.0 profitieren.
- Blinde Nutzer verwenden Screenreader, um Bildschirminhalte mithilfe nicht-visueller Ausgabegeräte (akustisch über eine Sprachausgabe oder haptisch über eine so genannte Braillezeile) zu vermitteln. Screenreader wiederum stützen sich auf den Accessibility-Tree eines Betriebssystems. Screenreadernutzer profitieren zwar von einer Konformität zu den WCAG 2.0, aber das Nutzungserlebnis ist oft doch mäßig.
- Manche Nutzer mit körperlichen Einschränkungen können die Tastatur (oder den Mauszeiger) nicht benutzen. Wichtig für die Konformität ist aber, dass die Nutzbarkeit sämtlicher Funktionen nicht nur per Mauszeiger, sondern ebenso per Tastatur gewährleistet wird. Vor allem für Mobilgeräte bieten die WCAG 2.1 einige weitergehende Anforderungen gegenüber den WCAG 2.0 für die barrierefreie Nutzung durch Menschen mit körperlichen Einschränkungen.
- Menschen mit Lernbehinderungen benötigen u.a. Leichte Sprache. Anforderungen hierzu finden sich in den Webstandards zur Barrierefreiheit leider kaum. Der Entwurf der WCAG 2.1 umfasst einige Anforderungen zur ablenkungsfreien Interaktion. Die in Deutschland geltende Barrierefreie Informationstechnik-Verordnung – BITV 2.0 legt darüber hinaus fest, dass die Startseite eines Webangebots einführende Informationen in Leichter Sprache enthalten muss.
- Für gehörlose Nutzer sind insbesondere akustische Informationen auch in Textform anzubieten. Die Übersetzung von Inhalten in Gebärdensprache wird nach den WCAG 2.0 nur für Audio-Inhalte in Videos empfohlen. Die BITV 2.0 legt hingegen fest, dass die Startseite eines Webangebots ein Gebärdensprachvideo mit Vorstellung der Inhalte und der Navigation enthalten muss.
Ob die Konformität zu den WCAG 2.0 ausreicht oder ob in konkreten Fällen Nutzeranforderungen zusätzlich berücksichtigt werden müssen, lässt sich an vielen Beispielen diskutieren. Es gibt verschiedene objektive Gründe, die die Berücksichtigung von Nutzeranforderungen nahe legen:
- Eine Webseite kann alle Anforderungen an Farbe erfüllen, aber die Webseite kann vielleicht immer noch nicht von Sehbehinderten genutzt werden, weil nicht alle Grafiken der Webseite im Kontrastmodus dargestellt werden (was quasi eine "Lücke" in den Anforderungen darstellt).
- Webseiten können technisch einwandfrei aufbereitet sein, so dass Browser alle Informationen der Webseite in die entsprechende Schnittstelle des Betriebssystems für Screenreader, den sogenannten Accessibility-Tree, hineinschreiben. Dennoch könnte ein Screenreader die Informationen dort falsch auswerten und es müssen Anpassungen im Code vorgenommen werden, um die Inkompatibilitäten zu überbrücken.
- Die Tastaturbedienung kann sichergestellt sein, aber beispielsweise nur für die Tab-Taste. Dabei gibt es Best-Practice-Empfehlungen für das Fokus-Management, die eine Optimierung der Tastaturbedienung insbesondere für fortgeschrittenere Komponenten vorgibt; diese gleichen der Tastaturbedienung auf Betriebssystemebene.
Barrierefreie Webinhalte entstehen nicht von selbst. Es ist Aufgabe aller an einem Webprojekt Beteiligten, bereits während der Entstehungsprozesse ihren Teil der Barrierefreiheit zu verantworten. Barrierefreiheit ist dabei ein erreichbares Ziel für jede Organisation, aber:
- Webinhalte sind erst dann für die meisten Nutzer zugänglich und nutzbar, wenn die Konformität zu den WCAG 2.0 erreicht wurde. Realistisch ist dabei Konformitätsstufe AA.
- Mit barrierefreien Inhalten können weitere Aspekte wie ein positives Nutzungserlebnis sinnvoll angestrebt werden.
- Webinhalte müssen kontinuierlich und in einem inklusiven Entstehungsprozess geplant und regelmäßig mit den betroffenen Nutzern evaluiert werden, damit möglichst wenige Nutzer ausgegrenzt werden.
Die Konformität zu den WCAG 2.0 kommt nicht "frei Haus", sondern setzt Sensibilisierung, Schulungen oder Investitionen in neuer Software voraus. Die WCAG 2.0 ist dabei ein umsetzbarer Standard. Viel wichtiger ist aber, dass die Konformität der Schlüssel zur Inklusion in der digitalen Welt ist.