Barrierefreies Webdesign ein zugängliches und nutzbares Internet gestalten

Lesen, was drinsteht — rausholen, was drinsteckt: Wie blinde Computernutzer sich PDF-Dokumente zugänglich machen geschrieben von Oliver Nadig (2005)

Dieser Beitrag wurde von Oliver Nadig in Oktober 2005 verfasst. Die vorliegende Fassung ist die Version 1.02 vom 25.1.2006.

7. Zugänglichkeit von PDF für Blinde: Eine kritische Bilanz

Mein Gast hat mir aufmerksam zugehört und sich wie ein Weltmeister Notizen gemacht. Es zeugt von seiner Umsichtigkeit, dass er mir die folgende Frage erst jetzt, am Ende des Gespräches stellt:

"Was würden Sie denn sagen – ist PDF barrierefrei oder nicht?"

"Nun, in den letzten paar Stunden haben Sie von mir vieles über das Format PDF und über die Handhabung von PDF- Dateien bei den verschiedensten Zugänglichkeitsproblemen erfahren. Es sollte klar geworden sein, dass das Thema zu komplex ist, um die gestellte Frage mit einem eindeutigen 'Ja' oder 'Nein' zu beantworten. In einer solchen Situation ist es ratsam, die Gesamtfragestellung in Teilfragen zu zerlegen, die leichter und eindeutiger zu beantworten sind. Über diese Teilfragen sollte sich dann auch konkreter diskutieren lassen, falls andere Personen, die sich ebenfalls mit der Materie beschäftigen, zu anderen Schlüssen kommen, als ich. Lassen Sie mich deshalb ein kleines Frage-und-Antwortspiel veranstalten:

Frage 1: Ist es einem Autor denn überhaupt möglich, ein für blinde und sehbehinderte Computeranwender vollkommen barrierefreies PDF-Dokument zu erstellen?

Antwort 1: Ja, wenn sich die Autoren an die in Abschnitt 1 aufgezählten sieben Kriterien halten (der Inhalt liegt als Text vor, der Dokumentschutz steht nicht mit dem Zugriff eines Screenreaders in Konflikt, Tags sind vorhanden, Navigationsmöglichkeiten sind vorhanden, bei Vergrößerung umfließt das Dokument korrekt, Darstellungsprobleme bei Kontrastveränderungen im Zusammenhang mit farbiger Texthinterlegung werden vermieden, die verwendeten Zeichensätze sind unproblematisch). Zu beachten ist aber: Je komplexer Inhalt und Layout des Dokumentes sind, desto anspruchsvoller und zeitaufwendiger ist die Aufgabe, die Datei barrierefrei zu gestalten.

Frage 2: Sind die meisten verfügbaren PDF-Dokumente barrierefrei?

Antwort 2: Nein. Das hat mehrere Gründe:

Frage 3: Arbeiten unsere Screenreader bereits optimal mit dem Adobe Reader zusammen oder liegt diesbezüglich noch einiges im Argen?

Antwort 3: Steigerungen sind noch möglich. Selbst beim Screenreader JAWS, der erfahrungsgemäß schon längere Zeit befriedigend im Adobe Reader arbeitet, sind noch Wünsche offen, die sich vor allem auf das Erkennen von Aufzählungen, Tabellen und Formularelementen richten. Grundsätzlich muss man aber festhalten, dass die Hersteller von Bildschirmvorleseprogrammen auf den guten Willen derjenigen Firmen angewiesen sind, die Anzeigeprogramme für PDF-Dokumente entwickeln. Zu deutsch: Ein Screenreaderhersteller, der es nicht schafft, gute Geschäftsbeziehungen zur Firma Adobe Systems zu knüpfen, hat hier das Nachsehen. Generell arbeiten sämtliche Bildschirmleseprogramme zumindest so gut mit dem Adobe Reader zusammen, dass man sagen kann: Gut zugängliche PDF-Dokumente können mit Hilfe jedes der derzeit aktuellen Bildschirmvorleseprogramme problemlos gelesen werden.

Frage 4: Tut die Firma Adobe Systems ihrerseits alles Nötige, um das Erstellen barrierefreier PDF-Dokumente so leicht wie möglich zu machen?

Antwort 4: Zunächst muss man festhalten, dass PDF einerseits und die Firma Adobe Systems nicht miteinander verwechselt werden dürfen. Mit dem Adobe Reader als Anzeigeprogramm und mit Adobe Acrobat als Herstellungswerkzeug von PDF-Dokumenten ist Adobe Systems der unumstrittene Marktführer. Die Spezifikation von PDF ist aber hinreichend offen gelegt, so dass auch jede andere Person oder Firma Programme entwickeln könnte, welche PDF-Dokumente darstellen.

Man darf andererseits aber auch nicht vergessen, dass die Firma Adobe Systems als Erfinder des PDF in einer besonderen Verantwortung steht. Vor diesem Hintergrund ist es zu bedauern, dass echte Anstrengungen hinsichtlich der Zugänglichkeit des Formates erst sechs Jahre nach dessen Einführung gemacht wurden und dass es insgesamt acht Jahre gedauert hat, bis man in einem PDF-Dokument mittels der Tags überhaupt Informationen über dessen logische Struktur hinterlegen konnte.

Ein weiterer Kritikpunkt ist der hohe Preis für Werkzeuge, mit denen sich Barrierefreiheit mit Sicherheit herstellen lässt: Viele Werkzeuge zur barrierefreien Erstellung und Nachbearbeitung von PDF-Dokumenten sind in der Standard-Edition von Adobe Acrobat nicht, sondern nur in der 200 Euro teureren Professional-Edition vorhanden. Werkzeuge zur Sicherstellung von Barrierefreiheit müssen meines Erachtens zur Standardausstattung eines Programms gehören!

Zweifellos hat Adobe Systems in der Vergangenheit viel für körper- und sinnesbehinderte Computeranwender getan: Die fast vollständige Tastaturbedienbarkeit des Adobe Readers, die integrierte Sprachausgabefunktionalität und der Ausgabehilfeassistent für Blinde, die Umfließ-Funktion für Sehbehinderte sowie das automatische Scrollen für motorisch Behinderte sind große Meilensteine auf dem Weg zu gut zugänglichen PDF-Dokumenten (siehe hierzu auch die Literaturhinweise [1] und [2]).

Wir dürfen aber nicht vergessen, dass Adobe Systems diese großartigen Werkzeuge nicht ganz freiwillig, sondern auf massiven gesetzlichen und öffentlichen Druck in den USA in ihre Programme eingebaut hat. Fazit: Firmen wie Adobe Systems stehen nach wie vor in der Pflicht, an der Verbesserung der Zugänglichkeit ihrer Programme und des PDF als Dateiformat zu arbeiten.

Frage 5: Kennen sich die blinden und sehbehinderten Computernutzer gut genug mit dem Thema PDF aus, um die Möglichkeiten ihrer Screenreader und der Anwendungsprogramme voll aus zu schöpfen?

Antwort 5: Nein, obwohl das nur selten die Schuld des blinden oder sehbehinderten Anwenders selbst ist. Noch vor vier bzw. fünf Jahren war kein einziger Screenreader in der Lage, aus eigener Kraft PDF-Dokumente an zu zeigen. Natürlich lag dies vor allem daran, dass der Adobe Reader den Screenreadern keinerlei Informationen über den Dokumentinhalt lieferte (der A.R. unterstützte noch kein MSAA), wer PDF-Dokumente lesen wollte, musste sich mit einem von Adobe zur Verfügung gestellten Zusatzmodul für den A.R. behelfen. Das musste separat installiert und konfiguriert werden.

Fakt ist, dass in jener Zeit bei weitem nicht alle blinden Anwender wussten, dass es überhaupt eine Chance gab, PDF-Dateien zu lesen. Als dann im Jahre 2001 die ersten Screenreader direkt mit dem A.R. zusammen arbeiten konnten, war diese Zusammenarbeit oft von vielen Kinderkrankheiten überschattet: Der Rechner lief instabil, die meisten logischen Strukturen von PDF-Dokumenten wurden noch nicht erkannt. Stand der Technik im Jahre 2001 war: Der Umgang mit PDF-Dokumenten ist – von wenigen gut zugänglichen Dokumenten einmal abgesehen – unmöglich bis problematisch.

Seit dieser Zeit hat es dramatische Verbesserungen gegeben. Wer sich allerdings seit vier Jahren nicht mehr mit dem Thema auseinander gesetzt hat, hat ein aus heutiger Sicht zu negatives Bild von der Zugänglichkeit von PDF. Wie in allen Lebensbereichen gibt es außerdem ungerechtfertigte Vorurteile gegenüber PDF-Dokumenten, die man wohl nie völlig ausräumen wird. Wer sich allerdings – aus privaten oder beruflichen Gründen – mit PDF-Dokumenten intensiv auseinander setzen muss, steht in der Pflicht, sich über die neuesten Fortschritte in der Screenreader-Technologie zu informieren.

Diesen 'Holschulden' der blinden und sehbehinderten Benutzer steht andererseits die Tatsache gegenüber, dass es nur wenig und nicht allen interessierten Personen zugängliche Fachliteratur jenseits des Internet zum Thema PDF gibt und dass es aus organisatorischen und finanziellen Gründen nicht in jedem Falle einfach ist, an einer blinden- bzw. sehbehindertengerechten Computerschulung teilzunehmen.

Also: Auf der Seite der Screenreader-Hersteller und der Blinden(selbsthilfe)verbände gibt es 'Bringschulden', nämlich die potentiellen Kunden bzw. Mitglieder über die Fortschritte auf dem Gebiet der Computerhilfsmittel auf dem Laufenden zu halten; auf der Seite der Anwender muss das Interesse für Technologiefortschritte ebenso vorhanden sein wie die Bereitschaft, Zeit und Geld in neue Versionen von Screenreadern und Bildschirmvergrößerungsprogrammen zu investieren.

Frage 6: Kann man sich als blinder bzw. sehbehinderter Computeranwender aus finanzieller Sicht einen modernen Screenreader leisten, der gut mit PDF zurechtkommt?

Antwort 6: Urteilen Sie selbst anhand der folgenden Fakten:

Frage 7: Was tut derjenige, der ein älteres System hat und unbedingt damit weiter arbeiten will oder muss?

Antwort 7: Natürlich laufen moderne Texterkennungsprogramme und aktuelle Versionen des A.R. nicht mehr unter älteren Betriebssystemen wie MS-DOS, Windows 3.1 oder Windows 95. Wer diese Systeme nutzen möchte oder muss, dem bleiben stets zwei Möglichkeiten:

  1. Das PDF-Umwandlungsprogramm Xpdf gibt es selbst in seiner aktuellsten Version noch immer für das Betriebssystem MS-DOS. Diese DOS-Version läuft natürlich auch unter Windows 3.1 oder Windows 95. Zumindest alle einfacher gestalteten PDF-Dokumente können also problemlos auch unter älteren Betriebssystemen zugänglich gemacht werden.
  2. Wer über Internet-Zugang verfügt, kann eine PDF-Datei stets als E-Mail-Anlage an einen Konvertierungsservice von Adobe schicken und erhält die Text- oder HTML-Version der Datei in einer Antwort-Mail. Das entsprechende Vorgehen beschrieb ich in 5.5 Von PDF nach Text oder HTML per Internet.

Frage 8: Ist es unter den gegebenen Umständen überhaupt sinnvoll, einem blinden oder sehbehinderten Computeranwender ein Dokument als PDF-Datei zu geben oder sind andere Dateiformate vor zu ziehen?

Antwort 8: Ich möchte drei entscheidende Gründe anführen, warum andere Dokumentformate gegenüber dem PDF momentan (noch) in sehr vielen Situationen vor zu ziehen sind:

  1. Vor dem Hintergrund des derzeitigen Entwicklungsstandes unserer Bildschirmleseprogramme und – damit zusammenhängend – dem Grad der Zugänglichkeit des Adobe Readers ist fest zu halten, dass sich andere Dokumentformate wie HTML (Internetseiten), DOC (Microsoft Word) oder das Rich Text Format (RTF) leichter lesen und navigieren lassen. Ausführliche Informationen zu diesem Thema finden sie im von Jan Eric Hellbusch herausgegebenen Buch (Literaturhinweis [5]). Die drei genannten Dateiformate lassen – ebenso wie PDF – eine logische Gliederung des Dokumentes zu, was Bildschirmleseprogrammen das schnelle Springen zwischen Kapiteln, Abschnitten, Tabellen, Querverweisen und anderen Dokumentstrukturen ermöglicht.
  2. Für Autoren ist es wesentlich einfacher, ein HTML-, Word oder RTF-Dokument logisch zu strukturieren, als eine PDF-Datei. Dies liegt nicht zuletzt an den dafür notwendigen Arbeitsschritten und Programmen.
  3. Komplexe mathematische und chemische Formeln, elektronische Schaltbilder, Musiknoten und fast alle Arten von Diagrammen, die Bestandteile von PDF-Dateien sind, lassen sich derzeit weder strukturiert mit Screenreadern auslesen noch durch eine Umwandlung in andere Dokumentformate erhalten. Gerade für naturwissenschaftliche Texte ist PDF derzeit denkbar ungeeignet.

Zu beachten ist jedoch: Diese Einschätzung kann sich im Laufe der Zeit verändern, wenn die Navigation in PDF-Dokumenten durch Fortschritte in der Screenreader-Technologie und das Strukturieren von PDF-Dokumenten durch besser bedienbare Software einfacher werden. Falls Sie nach Überblicksartikeln zum Stand der Technik suchen, empfehle ich Ihnen meine Literaturhinweise [6] und [8].

PDF als angemessenes Dokumentformat sollte nur in den folgenden, klar definierten Situationen zum Einsatz kommen: